Aufruf

Nicht lange fackeln!
Am 8. Mai 2015 will die Neonaziszene Mecklenburg-Vorpommerns zum achten Mal in Demmin aufmarschieren. Wieder einmal wollen sie ihre Sichtweise der Geschichte propagieren, einen deutschen Opfermythos konstruieren und diesen ins Zentrum des Gedenkens an die Kapitulation Deutschlands vor 70 Jahren rücken. So versuchen sie, die Geschichte zu relativieren und die Deutschen von Schuld reinzuwaschen.

Zur Geschichte
Am 30. April 1945 rücken die 30. und 38. Panzerbrigade der 2. Weißrussischen Front der Roten Armee in die Stadt Demmin ein. Den sowjetischen Truppen schlägt dabei im Vorfeld Demmins Widerstand entgegen, Verluste sind zu beklagen. Die Kleinstadt an der Peene soll auf ihrem Weg nach Rostock möglichst zügig passiert werden, der Plan muss jedoch verworfen werden, da abziehende Wehrmachtsoldaten sämtliche Brücken über Peene und Tollense im Bereich Demmin gesprengt haben. Noch in der Nacht zum 1. Mai wird mit dem Bau von Behelfsübergängen begonnen. Die beiden Panzerbrigaden rücken am 1. Mai über errichtete Fähren und Ersatzbrücken ab, der nachziehende Tross verbleibt noch bis zum 3. Mai in Demmin. Während der Anwesenheit der sowjetischen Truppen in der Kleinstadt kommt es zu zahlreichen Brandstiftungen, jedoch ist nicht geklärt, ob die Feuer durch Hausbesitzer oder Rotarmisten gelegt oder durch Unfälle verursacht worden sind. Darüber hinaus sind Fälle von sexualisierter Gewalt durch sowjetische Soldaten in Demmin bekannt.
Nach Angaben von Beerdigungsverzeichnis und Sterbebüchern sterben in den Tagen vom 30. April bis 3. Mai rund 500 Deutsche in Demmin durch Selbsttötung bzw. Tötung durch Angehörige. Besonders häufig werden die Tötungen durch ertränken in den Flüssen Peene und Tollense vorgenommen.

Fantasialand
Im Gedenkjahr 1995 erschien erstmals eine Schrift, die sich näher mit den Ereignissen zum Kriegsende in Demmin befasst. Der Autor Norbert Buske veröffentlichte die von der Landeszentrale für politische Bildung in Mecklenburg-Vorpommern herausgegebene Schrift „Das Kriegsende in Demmin 1945. Berichte, Erinnerungen, Dokumente“. Die weitgehend auf Erzählungen deutscher Zeitzeugen fußende Schrift gibt mehr als eintausend Opfer der Selbsttötungen an und stellt die Geschehnisse vor allem aus einer konstruierten deutschen Opferperspektive dar. Diese Darstellung wurden von Medien wie dem Stern oder dem NDR weitgehend übernommen und beflügelte Konservative und vor allem Neonazis dazu, Exkulpationsbemühungen voranzutreiben. Das meint die Bemühung Geschichte so zu erzählen, dass den Ausgangspunkt der Darstellung die Inszenierung der eigenen Opfer bildet.

Unter anderem die 2005 medial aufgegriffenen Darlegungen und Zahlen Buskes animierten die Neonazis dazu im darauf folgenden Jahr einen ersten „Trauermarsch“ mit „Totengedenken“ abzuhalten. Auf den mittlerweile jährlich stattfindenden Märschen wird bewusst die Vorgeschichte der Vorfälle von Demmin verschwiegen. Der von den Deutschen entfesselte Weltkrieg und die Folgen des nationalsozialistischen Vernichtungswahns in Europa werden wissentlich unterschlagen. Mit keiner Silbe wird diesbezüglich erwähnt, dass es die Deutschen waren, die dem Aufruf ihrer Führung zum totalen Krieg jubelnd folgten und die Bevölkerung Sowjetrusslands und anderer Staaten versklavten und ermordeten. Stattdessen beruft sich der selbsternannte „Nationale Widerstand“ heute weiterhin bewusst auf die scheinbar unschuldige „deutsche Volksgemeinschaft“, die vor allem Opfer „alliierter Kriegsverbrechen“ geworden sei. Dabei ist auch der konstruierte Mythos einer unschuldigen Stadt Demmin schlicht unhaltbar. So erreichte die NSDAP bei den Reichstagswahlen im März 1933 fast 54% der Wählerstimmen. Während des Krieges wurden Menschen in Stadt und Region zur Zwangsarbeit und „Vernichtung durch Arbeit“ verschleppt, Jüdinnen und Juden aus Demmin in die Vernichtung deportiert.

Ebenfalls verschweigen die Neonazis heute die jahrelange Propaganda und rassistische Indoktrination, die ihre „Volksgenossen“ damals derart wohlwollend aufnahmen und weiterverbreiteten, dass sie, so etwa in Demmin, auch nach Ende der unmittelbaren Kriegshandlungen in der Region hunderte Menschen zu Mörder_innen machte und in den Selbstmord trieb. Die nationalsozialistische Massenpsychose als Grund für das irrationale Handeln der Bevölkerung Demmins wird dabei heute von den Neonazis propagandistisch wohlwollend ausgeklammert. Durch die bewusste zeitliche Überschneidung wird dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Alliierten, dem in vielen Teilen der Welt auch heute noch mit Dankbarkeit und Freude gedacht wird, die Legitimität aberkannt. Die Geschichte absichtlich ausblendend, wiederholen die Neonazis an diesem Tag damit genau das, was damals auch die Bevölkerung Demmins in den Untergang trieb: nationalsozialistische Ideologie und Propaganda. Die Vorfälle in Demmin im Frühjahr 1945 werden dabei als Argument benutzt, um aus dem Sieg über Hitlerdeutschland eine illegitime Besatzung und Unterjochung des „deutschen Volkes“ zu machen. Damit reihen sich die neuen Nazis direkt in die Tradition der alten ein und beweisen so geistige und praktische Nähe zum Nationalsozialismus: Das heraufbeschworene Volk wird unter Missachtung geschichtlicher Tatsachen und Zusammenhänge zu einem Opfer stilisiert, um daraus eine Legitimation für das eigene Weltbild und Handeln zu ziehen.

Karneval der Trauerklöße
Für die Neonaziszene im Nordosten ist die die jährliche Veranstaltung in Demmin neben ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit auch ein szenestärkendes Event. In Anbetracht einiger großartiger Teilerfolge regionaler antifaschistischer Interventionen im Land, kommt diesem Element des geschichtsrevisionistischen Aufmarsches zusehends Bedeutung zu. In Demmin vergewissert man sich gemeinsamer Mythen und stilisiert sich zur Kampfgemeinschaft gegen den Zeitgeist und die angebliche Geschichtsschreibung der „Besatzer“ und „Systemmedien“. Fern von Zusammenhängen und Tatsachen drückt sich das Gedenken dann auch aus: Der „Trauermarsch“ wird von besonders hundsäugig drein blickenden „Kameraden“ in altdeutschem Flüchtlingsschick samt Bollerwagen und Schmutz auf den Wangen angeführt und vom theatralischen Kranzabwurf in die Peene abgerundet.
Verantwortlich für diesen Karneval der Trauerklöße zeichnet sich der NPD-Abgeordnete Michael Gielnik aus Stadt Usedom, der gleich eine Anmeldung bis 2017 einreichte. Hinter dem Aufmarsch in Demmin stecken damit, wie üblich in Mecklenburg-Vorpommern, die NPD und ihre Kader. Doch auch die lokalen Strukturen werden stets mit eingebunden in das Trauerspiel. Aktivist_innen der „Kameradschaft Landkreis Demmin“, wie beispielsweise Marko Lohmann, verlesen Redebeiträge oder Gedichte. Sie tragen das Fronttransparent und schauen traurig aus der Wäsche, wenn NPD-Granden die Geschichte nach nationalsozialistischem Gutdünken umlügen und dem „deutschen Volk“ die Tränen in die Augen treiben.

Gerade im Hinblick auf den 70. Jahrestag der Befreiung, ist davon auszugehen, dass die Neonazis versuchen werden erneut viele Anhänger_innen zu mobilisieren. Wenngleich die Unterstützung aus anderen Teilen der Bundesrepublik in den letzten Jahren kaum vorhanden war, scheint dies in diesem Jahr durchaus denkbar. Zumal die menschenverachtende Inszenierung dieses Mal auf einen Freitag fallen wird.

Lieber in Champagner duschen, als in der Peene schwimmen!
Ihr Trauermarsch gelang ihnen in den vergangenen zwei Jahren allerdings nur noch schwerlich. Hunderte Antifaschist_innen und zahlreiche Menschen aus Demmin und Umgebung sorgten auf verschiedene Weise für Protest und Widerstand gegen den faschistischen Marsch. Unzählige Blockaden behinderten den Aufmarsch immer wieder. Die Neonazis mussten direkte Aktionen erdulden und ihr Kranzabwurf endete in einem Pfeifkonzert. Der ein oder andere „Kamerad“ konnte beim polizeilich abgesicherten Passieren der Blockaden kaum noch an sich halten und die viel gerühmte Marschdisziplin stand auf wackligen Beinen. Lediglich dem brutalen Polizeieinsatz im vergangen Jahr konnten die Neonazis die Durchführung ihrer Veranstaltung, einschließlich der Kranzniederlegung, verdanken. Dabei schreckten die Bullen nicht davor zurück, Hunde auf friedliche Blockierer_innen zu hetzen, alles und jeden körperlich anzugreifen, der/die nach vermeintlicher Antifaschist_in aussah. Gegendemonstrant_innen wurden mit Knüppelschlägen bedacht und Pfefferspray in rauen Mengen eingesetzt. Den traurigen Höhepunkt bildete ein Übergriff von Angehörigen der BFE-MV auf einen französischen Genossen. Dieser wurde derart von den Berufsschlägern misshandelt, dass er für einen Tag ins künstliche Koma versetzt werden musste. Ohne umschweife kann hier von einer neuen Qualität der Polizeigewalt in MV gesprochen werden. Der Innenminister Lorenz Caffier (CDU) nahm seine Schlägermiliz im Nachgang mit der skandalösen Frage danach, was ein Franzose auf der Demo in Demmin eigentlich zu suchen habe, in Schutz.

Doch trotz dieser Vorfälle und gerade wegen der positiven Entwicklung der antifaschistischen Proteste und ihrer Verstetigung gibt es für uns keinen Grund am 8. Mai den Kopf hängen zu lassen. Im Gegenteil, gerade historisch bedeutsame Daten wie der Tag der Kapitulation Nazideutschlands und geschichtlich markante Vorgänge wie die Selbsttötungen von Demmin sind es, die uns dazu veranlassen, eine klare antifaschistische Deutung der Geschichte einzufordern. Wir wollen, dass die Schuldigen von Vernichtungskrieg und Massenmord klar benannt werden und an die Opfer deutschen Wahns erinnert wird. Wie verwehren uns einer Täter-Opfer-Umkehr, wie sie die Neonazis stets propagieren und verweigern uns der Geschichtsvergessenheit, die den eliminatorischen Antisemitismus, den fanatischen Rassismus und den mörderischen Eroberungswahn Deutschlands als Grund für den Zweiten Weltkrieg verschweigt.
Genauso geben wir uns unversöhnlich mit den von Protagonist_innen aus Medien und Politik angeschobenen Versuchen, die Schuld am Nationalsozialismus und seinen Gräueln einigen Wenigen zuzuschieben und die Mitschuld weiter Teile der Deutschen am NS zu unterschlagen. Die Zeitzeug_innen, die Erinnerung wach halten können, werden weniger. Damit steigt gleichzeitig die Chance der Geschichtsrevisionist_innen auf Erfolg ihres Vorhabens.
Unser Widerstand gegen die Verfälscher_innen der Geschichte auf der Straße ist ein Teil des Widerstands gegen die Umschreibung der deutschen Geschichte zu Gunsten eines nationalsozialistischen Weltbildes oder einer vorgeblich geläuterten Nation! Die, die heute noch über die angeblich grausamen alliierten Truppen klagen, müssen sich Fragen lassen, was sie hinsichtlich mordender, plündernder und vergewaltigender Deutscher anderes von den Alliierten erwartet hätten. In Anbetracht dessen, was die Nazitruppen überall in Europa angerichtet haben, können die Deutschen froh sein, dass die Reaktionen, gerade der sowjetischen Armeen, so milde ausfielen, denn sie kamen nicht als Befreier der Deutschen, sondern als Befreier Europas von den Deutschen.

Aber es gibt Lichtblicke gegen die Geschichtsvergessenheit. Neben den zahlreichen Menschen, die sich in den vergangenen Jahren gegen die Neonazis in Demmin stellten, versuchen auch engagierte Historiker_innen mit ihren Mitteln den Mythos um den „Massensuizid“ von Demmin zu entzaubern und leisten damit ihren Beitrag gegen die „Opa war in Ordnung“ – Mentalität.

Zur Party? Zur Party!
Wir werden wie bereits 2014 gegen den Neonaziaufmarsch in Demmin aktiv werden. Damit leisten wir am 8. Mai unseren praktischen Beitrag gegen die Lügen der Neonazis und versuchen ihrer Szene in MV einen weiteren Schlag zu versetzen, der sie ins Taumeln bringt. Dabei werden wir nicht vergessen, dass die Neonazis nur die sind, die ihre Geschichtsvergessenheit am radikalsten formulieren. Wir werden uns lautstark gegen die Reinwaschung deutscher Geschichte und die damit verbundene Legitimation neuer deutscher Großmachtsbestrebungen im 70. Jahr der Befreiung Europas vom Faschismus wenden.

Auf nach Demmin, Geschichtsrevisionismus stoppen! Давай товарищ!